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  • Writer's pictureEsther

Die Drachenbrücke

Das Schloss, in dem die Prinzessin lebte, lag auf einem Hügel. Von der Spitze des Hügels konnte man so weit schauen wie es nur ging. Manchmal - an ganz klaren Tagen sogar soweit, dass man sah, wie der Himmel den Horizont berührte.


Jedoch lag ein breiter Ring aus Dornengestrüpp zum Schutze des Hügels und seiner Bewohner um den Hügel herum. Diesen Dornenring gab es schon seit sehr vielen Jahren. Er wurde gepflanzt zu einer Zeit als es noch Drachen gab, die den Hügel und seine Bewohner bedrohten.


Diese früheren Bewohner des Hügels haben aus gutem Grunde eine besondere Sorte von Dornen angesät, die nicht bezwungen werden konnte. Egal, was auch immer passierte.


Es waren verzauberte Brombeerranken.




Der Zauber gab den Dornen die Kraft, immer zu wachsen und gegen jede Art von Widerstand anzukämpfen.


Wenn es besonders trocken war, sodass die schönsten Blumen verwelkten, wuchsen die Dornen als wäre nichts gewesen.


Wenn es besonders feucht war, sodass man beim Gehen über die Felder überall einsank, wuchsen die Dornen weiter als wäre nichts gewesen.


Wenn der Gärtner mit seiner Schere einen Ranken kürzte, wuchsen die Dornen einfach in eine andere Richtung weiter.


Auch Drachenfeuer konnte die Dornen nicht dauerhaft bezwingen. Der Zauber, der auf ihnen lag, war viel zu stark.


Die verzauberten Dornen hielten die Drachen über viele Jahre von dem Hügel fern. Alle Bewohner freute dies sehr und sie waren erleichtert, dass sie so eine mächtige Dornenhecke um ihren Hügel hatten.



Mittlerweile aber gab es schon lange keine Drachen mehr. Aber die Dornen gab es immer noch.

Damit die Dornen nicht den gesamten Hügel einnahmen und die Bewohner einschloss, wurden sie von einer kleinen Armee von Gärtnern bewacht. Jeden Tag musste sie zu den Dornen ausrücken und sie kürzen und davon abhalten, dass sie zu nah an das Schloss und die anderen Häuser auf dem Hügel kamen.


Niemals, in über 100 Jahren, ist es jemandem gelungen, den Hügel zu erreichen und die Dornen zu durchqueren. Sobald sie zu weit in die Dornenhecke vordrangen, wurden sie von den Ranken eingeschlossen auf dass sie niemals wieder entkamen. Nur ein paar waghalsigen Eroberern wurde das Glück beschert, dass sie den Dornen entrinnen konnten und sie rannten so schnell es ging voller Furcht davon und kamen nie wieder zurück.


Manchmal, wenn die Nacht am Dunkelsten war, erzählten sie von den schrecklichen Dornen und davon, wie sie nur um ein Haar ihren unbarmherzigen Fängen entkommen sind. Ihnen selbst wie auch jedem, der ihnen zuhörte, lief dabei stets ein Schauer des Schreckens über den Rücken. Fürwahr, der Zauber, den diese Dornen umgaben, war mächtig.


Aber was war mit den Bewohnern des Hügels? In über 100 Jahren ist es niemals einem Bewohner des Hügels gelungen, den Hügel zu verlassen. Die Dornen waren seit Anbeginn Gefängnismauern für die Bewohner des Hügels.


Es ist kein Geheimnis, dass es die Gärtner schon oft versucht haben, sich durch die Dornen zu schneiden, um zu entkommen. Aber jedes Mal, wenn sie tief in die Dornen eingedrungen sind, wurden sie so müde, dass sie ein Schläfchen machen mussten.


Und nach jedem Schläfchen, wenn sie weiter arbeiten wollten, war die Dornenhecke wieder zugewachsen. Es war wie verhext.



Glücklicherweise gab es auf dem Hügel alles, was man brauchte. Es gab genug zu essen und genug zu trinken und die Menschen lebten sicher und behütet.


Immer wieder aber gab es den Wunsch, einmal den Hügel zu verlassen und die Welt zu erkunden. Sehen konnten die Hügelbewohner so weit, aber in die Weite gehen, konnten sie niemals.


Viele wurden deswegen sehr traurig und begannen, nur noch auf dem Hügel zu sitzen und in die Ferne zu schauen. Sie hörten auf zu arbeiten und zu lachen und sie wollten nicht mehr mit den anderen Hügelbewohnern sprechen. Selbst Abends als es dunkel wurde, gingen sie nicht nach Hause. Sie saßen einfach nur alleine auf dem Hügel und waren traurig. Und obwohl dort so viele waren, sprachen sie niemals miteinander und hielten Abstand.



Die Prinzessin sah all dies aus ihrem Schloss und überlegte, wie sie den Bewohnern helfen konnte. Sie dachte bei sich, es müsse doch einen Weg geben, die Dornen zu überwinden, sodass die Hügelbewohner einmal die Welt erkunden könnten.


Sie überlegte viele Tage angestrengt und schließlich hatte sie eine Idee: Eine Brücke! Entzückt von ihrer Idee lief sie durchs Schloss und durch das Dorf und rief dabei immer wieder "Wir bauen eine Brücke - Eine Brücke über die Dornen und dann erkunden wir gemeinsam die Welt!".


Viele Bürger des Hügels schauten sie verwirrt an, andere wiederum froh über diese tolle Idee. Ja, eine Brücke wollten sie gemeinsam bauen.


So gingen viele Bewohner zusammen mit der Prinzessin in den Wald und schlugen ein paar Bäume, um Holz für die Brücke zu erhalten. Da fast alle Bewohner des Hügels Gärtner waren und Erfahrung mit dem Schneiden der Dornenhecke hatten, kamen sie schnell voran.

Das Holz brachten sie nahe an die Dornenhecke heran und überlegten nun, wie sie die Brücke am besten bauen sollten.



Da niemand auf der anderen Seite der Dornenhecke war, der ihnen half, mussten sie kreativ werden.


Einer schlug vor, zunächst einen Turm zu bauen, der so hoch war, dass man im Anschluss eine Rampe über die Dornen bauen konnte.

Ein anderer überlegte, ob man die Dornen selbst als Fundament nutzen könne, auf dem die Brücke halt fand.


Viele weitere Vorschläge kamen auf, aber keiner schien so richtig gut.

Da es dunkel wurde, gingen alle nach Hause und versprachen, sich weiter Gedanken zu machen, wie man die Brücke am besten bauen konnte.


Als sich alle wieder am nächsten Tag trafen, gab es keine besseren Ideen als die, die schon am Tag zuvor besprochen worden sind. Daher entschied die Prinzessin, dass zunächst ein Turm gebaut werden solle, der ihnen erlauben würde, die Dornenhecke von oben zu betrachten.


Alle waren einverstanden und begannen mit dem Bau des Turms.

Nach nur einem Tag waren sie fertig und die Prinzessin konnte über eine hohe Leiter auf den Turm klettern und Ausschau halten.



"Kannst du auf die Dornen sehen?" riefen die Bewohner zu ihr hoch. Sie war so weit oben, dass ihre Stimmen richtig leise waren und die Bewohner klein wie Ameisen erschienen. "Was siehst du?", wollten sie weiter wissen. Die Prinzessin schaute sich um und versuchte, einen guten Plan zu schmieden, der es ihnen erlaubte, über die Dornen eine Brücke zu bauen.


"Ja, ich kann alles sehen", rief sie nach unten und hielt dabei ihre Hände wie einen Trichter vor ihren Mund, damit sie alle gut verstehen konnten.


Aber sie hatten den Turm zu weit von den Dornen entfernt gebaut. Die Prinzessin wurde traurig und versuchte, nicht zu weinen, aber es half nichts: Sie mussten noch einen Turm bauen. Einen, der viel näher an den Dornen stand.


Da sie diesmal Übung hatten und wussten, wie man einen Turm baut, kamen sie schneller voran und waren schon zum Mittagessen am nächsten Tag fertig.


Ein besonders talentierter Gärtner baute eine kleinere Brücke zwischen den beiden Türmen. Auf diese Weise konnte die Prinzessin ganz komfortabel von einem Turm zum nächsten gehen und sich wieder genau umsehen.


Dieses Mal konnte die Prinzessin sich einen viel besseren Überblick verschaffen. Froh rief sie zu den Hügelbewohnern: "Ich habe eine Idee!"


Sie schaute noch einmal über die Dornen, nickte zuversichtlich und kletterte dann zu den anderen herunter.


Es war eigentlich ganz leicht. Denn dadurch, dass die Dornenhecke schon so alt war, gab es im Inneren der Hecke viele dicke Dornenstämme. Wenn man nun vorsichtig eine Leiter von dem zweiten Turm auf die Hecke läge, könnte ein geschickter Gärtner bis zu solch einem Stamm klettern und dort die Leiter festbinden. Eine weitere Leiter daneben und eine Plattform darüber, würde quasi ein dritter Turm sein.


Alle Bewohner fanden die Idee spitze. Und der mutigste Gärtner meldete sich sogleich freiwillig.

Es war gut, dass der Gärtner so mutig war, denn diese Aufgabe war wirklich schwierig und gefährlich.


Die Leiter war sehr wackelig und er schwebte sehr weit oben über den langen und spitzen Dornen. Der Prinzessin war auch angst und bange zumute, da sie sich darum sorgte, dass der arme Gärtner von der Leiter fiel.



Aber er schaffte es, die erste Leiter an einem dicken und stabilen Stamm eines Dornbusches zu befestigen. Weitere starke Bewohner reichten ihm eine zweite Leiter, die er sogleich befestigte und dann noch eine.

Die Bewohner des Hügels bauten unermüdlich weiter und reichten Leiter um Leiter zum mutigen Gärtner. So lange bis er eines Tages rief: "Ich bin am Ende angekommen!"


Alle jubelten und freuten sich, dass ihre Brücke nun bis über die Dornenhecke reichte. Einige weitere mutige Hügelbewohner kletterten über die Leiter-Brücke bis zum Rand und schauten runter.

Ab hier erschien es sehr leicht, die andere Seite zu erreichen. Nur zwei weitere Leitern wurden benötigt und schon konnte der mutige Gärtner den ersten Schritt auf die andere Seite der Dornenhecke setzen.


Einige wenige Mutige folgten ihm und liefen auf den andern Seite der Dornenhecke umher, um die neue Freiheit und ihren Erfolg zu feiern.

Aber sie wussten auch, dass ihre Aufgabe noch nicht beendet war. Schließlich konnten sie es nicht der Prinzessin zumuten, über die wackelige Leiterbrücke zu klettern. Außerdem musste man sich immer mit beiden Händen gut festhalten, sodass man kein Gepäck mitnehmen konnte.


Daher gingen alle wieder über ihre Leiterbrücke zurück und erzählten, was sie gesehen und erlebt hatten. Aber auch von ihrem Plan, die Brücke soweit zu verbessern, dass sogar die Prinzessin mit etwas Gepäck über die Brücke gehen konnte.


Tagelang schmiedeten sie gemeinsam Pläne und als sie sich einig waren, wie sie am besten vorgehen sollten, begannen alle gemeinsam mit dem Bau der "Drachenbrücke". Diesen Namen hatten sie sich zusammen ausgesucht und bei einem Fest feierlich bekannt gegeben.


Alle halfen mit, Holz aus dem Wald zu holen, zu sägen und zusammen zu zimmern. Jeder half so gut er konnte und diejenigen, die nicht so gute Handwerker waren, halfen dabei, dass alle immer genügen zu trinken und zu essen hatte. Denn die Arbeit an der Brücke war anstrengend und gefährlich.


Nach ein paar Wochen dann war es soweit.


Die Drachenbrücke war fertig und die Prinzessin sollte sie als Erste einweihen, indem sie mit einem Gepäckstück über sie hinüber schritt.


Die Prinzessin wusste, dass nicht nur alle Bürger des Hügels sie beobachten würden, sondern auch viele von außerhalb des Hügels kommen würden. Schließlich sind ihre Arbeiten an der Drachenbrücke nicht unbemerkt geblieben, sondern es hatte sich schnell im ganzen Land herumgesprochen, dass die Hügelbewohner einen Weg gefunden hatten, die Dornen zu überwinden.


Es kamen sogar viele, die beim Bau der Brücke halfen und schnell viele neue Freunde unter den Hügelbewohnern gefunden hatten. Ganz besondern unter jenen, die zuvor oft traurig alleine am Hügel saßen und in die Ferne geschaut haben. Denn grad diese Bewohner wollten so gerne alles über die Welt da draußen lernen und die Menschen in der Ferne kennenlernen.


Bei all der Aufmerksamkeit, die nun auf der Prinzessin lag, wollt sie sich ein besonders schönes Gepäckstück aussuchen, damit es in den Geschichtsbüchern eine noch bessere Geschichte war.

Nach einer schlaflosen Nacht wusste sie, was sie nehmen würde.


Als der große Tag kam, lag über dem ganzen Hügel eine aufgeregte Vorfreude. Endlich war es soweit und die Prinzessin begab sich mit den anderen zur Drachenbrücke. Sie kletterte die erste Leiter hinauf, ging vom ersten zum zweiten Turm und hielt dann eine Heckenschere in der Hand als sie über die gesamte Drachenbrücke bis zur anderen Seite schritt. Die Heckenschere, so dachte es sich die Prinzessin, war ein Sinnbild für das Leben der Hügelbewohner und somit das perfekte Gepäckstück.


Lauter Jubel ertönte, als die Prinzessin auf der anderen Seite der Dornenhecke ankam. Viele folgten ihr und seither gehen jeden Tag tausende von Menschen über die Drachenbrücke.


Sie wohnen auf dem Hügel und arbeiten im nächsten Dorf auf der anderen Seite der Hecke oder aber anders herum. Viele neue Freundschaften wurden geschlossen und alle Hügelbewohner sind nun viel glücklicher als zuvor. Wenn jetzt jemand noch Abends auf dem Hügel sitzt, dann weil sie die Sterne bewundern, aber nicht mehr, weil sie traurig sind.



Aber obwohl es nun die Brücke gibt, müssen noch immer jeden Tag viele Gärtner an der Dornenhecke arbeiten. Jetzt verhindern sie nicht mehr nur, dass die Dornen den gesamten Hügel einnehmen - auch die Drachenbrücke muss von den Brombeerranken geschützt werden.


Früher einmal hieß es, die Brombeeren gewinnen immer, aber grad sieht es so aus, als hätten die Dorfbewohner mit dem Bau der Drachenbrücke einen kleinen Sieg davon getragen.










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